Friedrich Gottlieb Klopstocks Stabat Mater

von Joachim Jacob

„Ich bin ein sehr verliebter Liebhaber der Musik [...]. Ich singe wohl bisweilen ein wenig mit, wenn es leicht ist, was gesungen wird“, schreibt Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) im Oktober 1767 an eine junge Leserin, Anna Cäcilia Ambrosius in Flensburg. Der berühmteste deutsche Dichter seiner Zeit, der Zeit der Empfindsamkeit, lebt seit einigen Jahren am Hof des dänischen Königs in Kopenhagen, der ihm zur Fertigstellung seines monumentalen Bibelepos Der Messias (1748-1773) seit 1750 eine lebenslange Pension gewährt hatte. In geselliger Runde am Hof, so berichtet Klopstock seiner Briefpartnerin weiter, beschäftige man sich auch damit, „Melodien“ auszuwählen, „die uns vorzüglich gefallen. Wir machen Texte dazu wenn sie noch keine haben“, und „wir ändern andre Texte“.
Einer dieser Texte, die Klopstock „vorzüglich gefallen“ haben, ist der mittelalterliche Hymnus Stabat mater, der erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts, 1727, dem katholischen Messbuch hinzugefügt worden war:

         „Dieß ist ein lateinischer catholischer Text zu einer
         ausserordentlich schönen Composition. Ich habe einen
         deutschen Text dazu gemacht. Dieser Text ist sehr ernsthaft.“

Die „außerordentlich schöne Composition“ dazu ist das Stabat mater Giovanni Battista Pergolesis (1710-1736). Es ist für Klopstock Gegenwartsmusik, die, soweit belegt, Johann Sebastian Bach (1685-1750) in Leipzig zwischen 1740 und 1750 zu ihrer deutschen Erstaufführung gebracht hatte. Schon Bach hatte Pergolesis Komposition bearbeitet und den Originaltext durch eine Paraphrase des 51. Psalms ersetzt („Gott sei mir gnädig, nach deiner Güte, Und tilge meine Sünde ...“). Klopstock dagegen scheint seine Bearbeitung des Stabat mater ohne den Anlass einer musikalischen Aufführung vorgenommen zu haben. Zu ihr wird es in der Passionszeit 1770 in Leipzig kommen. Der spätere Thomaskantor Johann Adam Hiller (1728-1804) setzt in seiner Pergolesi-Aufführung nun Klopstocks Textgrundlage mit großem Erfolg ein. Wenn Pergolesi noch lebte, so ein Rezensent der Aufführung, „deutsch verstünde, und seine Musik mit dem deutschen Texte absingen hörte, würde er sich vielleicht selbst bereden, er habe sie für diesen, und nicht für den lateinischen, componirt“.
Klopstock trifft offenbar den Nerv der Zeit. Nicht nur wegen der ‚Ernsthaftigkeit‘ seines Themas, die der Dichter gegenüber Anna Cäcilia herausstellt. Sondern weil seine Bearbeitung, wie es des Öfteren in den zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen heißt, ‚rührend‘ ist – das größte Kompliment, das man in der Zeit der Empfindsamkeit machen kann. Denn sich anrühren zu lassen, ist eine neue Tugend, die die Empfindsamkeit verlangt. Sie ist eine Epoche in der Mitte der Aufklärung, in der das individuelle Gefühl, das Anrührende, aber auch das Miteinander und die Freundschaft, und überhaupt die Freude am Leben und an den eigenen Sinnen wie auch an der Natur ganz entschieden aufgewertet werden. Die Aufwertung des Gefühls durchzieht alle Bereiche des Lebens, die Künste, und natürlich auch die Religion. Sie lässt sich auch an Klopstocks empfindsamer ‚Veränderung‘ (Parodie) des lateinischen Textes des Stabat mater ablesen.
Klopstock greift hierfür weit in seine Vorlage ein. Er kürzt, stellt um, fügt ein und erfindet neu. Während sich das mittelalterliche Stabat mater auf die Mutter Maria richtet, die am Kreuz um ihren Sohn trauert („Es stand die Mutter voll Schmerz [...]“), ist Klopstocks Bearbeitung ganz auf den „Mittler“ Jesus Christus ausgerichtet, der durch seinen Kreuzestod Gott und Menschen miteinander versöhnt.
Jesus „schwebt’ am Kreuze“ heißt es im ersten Vers in Klopstocks Bearbeitung. Gleich am Anfang scheint das Leiden schon überwunden zu sein und die Aufhebung der menschlichen Schwere bereits in den Himmel zu ziehen. Doch dem ersten Eindruck wird schnell eine Gegenbewegung entgegengesetzt, bevor es zu versöhnlich wird: „Blutig sank sein Haupt herunter, / Blutig in des Todes Nacht.“ Blut – das in der christlichen Frömmigkeit immer wieder eine zentrale Rolle spielt –, Nacht und Tod führen mit wenigen, aber gewichtigen Worten in die Realität der Kreuzigungsszene zurück. In ihr erscheint jetzt auch Maria. Aber sie ist nicht allein, sondern Klopstock setzt ihr, dem Johannes-Evangelium folgend (Joh 19,26f.), den ‚Lieblingsjünger‘ Jesu Johannes an die Seite. So bildet sich eine Gemeinschaft aus „Mutter“ und „Freund“, die sich in den folgenden Strophen rasch erweitert: um die Gemeinschaft der Engel, die sich mit den Getrösteten freuen, und um die Gemeinschaft aller, die sich diese Szene vergegenwärtigen. Damit wendet sich das Gedicht auch hinaus an die Lesenden oder Zuhörenden:
           „Wer wird Zähren [= Tränen] sanften Mitleids
            nicht mit diesen Frommen weinen,
            die dich Herr im Tode sahn?“
Während sich der mittelalterliche Hymnus in der Form eines Gebets an Maria wendet („O du Mutter, Brunn der Liebe, / mich erfüll mit gleichem Triebe, daß ich fühl die Schmerzen dein“; Übersetzung Heinrich Bone), bildet sich in Klopstocks Bearbeitung eine kollektive Gemeinschaft aus: „Ach was hätten wir empfunden [...] / Am Altare wo er starb!“ Sie ist verbunden im gemeinsam empfundenen Mitleid, in der Fähigkeit, sich vom Leid anderer anrühren zu lassen.
Angesichts der Grausamkeit des Kreuzestodes – und, übertragen auf die gegenwärtige Welt, der eigentlichen Unerträglichkeit schier unermesslicher Gewalt und Leid – muss man, das ist jedenfalls Klopstocks Überzeugung, das Furchtbare soweit mildern, dass es mitfühlbar wird, „sanft und leicht“, wie es wiederholt im Gedicht heißt. In christlicher Perspektive steht das Leiden Jesu zudem im Licht des Heils der Versöhnung der Welt im jüngsten Gericht am Ende aller Zeit. Der lateinische Hymnus eröffnet diese Aussicht nur kurz in seinem letzten Vers: „Fac ut animae donetur / Paradisi gloria“ (mach, dass der Seele gegeben werde / Des Paradieses Herrlichkeit). Klopstock gibt im Unterschied dazu der Vorfreude auf eine himmlische Seligkeit, der „Wonne“, dem „Vorschmack“ des Himmels, durch seine Bearbeitung hindurch mehr Raum. Sie gipfelt in der Bitte am Ende:
          „Daß wenn einst wir nun entschlafen
          ungetrennet im Gerichte
          droben unsre Brüder sehn.
          Amen.“
Diese Bitte bringt als letztes Wort den Wunsch nach einer Bewahrung irdischer Gemeinschaft über den Tod hinaus zum Ausdruck, der für die Zeit der Empfindsamkeit bezeichnend ist, aber tatsächlich für die kirchliche Lehrmeinung der Zeit eine unerhörte Vorstellung war. Klopstock, der seine erste Frau Meta Moller (1728-1757) früh verloren hatte und ihr literarisch wiederholt ein Denkmal setzt, hat diese Sehnsucht nach einem himmlischen Wiedersehen derer, die einem über den Tod hinaus lieb sind, literarisch populär gemacht. Auch darum dürfte ihm seine Bearbeitung als „sehr ernsthaft“ erschienen sein, weil sie an letzte und größte menschliche Wünsche nach Gemeinsamkeit rührt.