Unter den erstaunlich vielen Messvertonungen gehört die Messe in c-Moll, KV 427, von Wolfgang Amadeus Mozart sicher zu denjenigen, die einen besonderen Rang beanspruchen können, wie auch die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach und Ludwig Beethovens Missa solemnis. Zwischen den beiden Letztgenannten und Mozarts Großer Messe in c-Moll gibt es aber einen fundamentalen Unterschied: Mozarts Große Messe blieb unvollständig, sie ist ein Torso, wie auch Mozarts Requiem, allerdings aus völlig anderen Ursachen. Blieb das Requiem unvollendet, weil Mozarts bekanntlich durch seinen frühen Tod an dessen Vollendung gehindert wurde, so sind die Ursachen im Fall der c-Moll-Messeweniger eindeutig zu erklären. Die 1782 komponierte Messe gehört formal zum Typus der Missa solemnis (der Begriff steht für eine besonders festliche und umfangreiche Messvertonung mit entsprechender Besetzung des Ordinariums der heiligen Messe, also der feststehenden Teile der Liturgie). Das Attribut Große Messe wurde erst später hinzugefügt.

Nachdem im Jahr 1781 Mozart in Ungnaden aus dem Dienst des Erzbischofs von Salzburg, Hieronymus Graf von Colloredo mit dem legendären Tritt in den Hintern durch dessen gräflichen Abgesandten entlassen worden war, zog Mozart von Salzburg nach Wien. Er lebte dort als freischaffender Künstler, Komponist und Musiklehrer ohne Anstellung, wo er am 4. August 1782 Constanze Weber heiratete. Aus Mozarts Korrespondenz mit seinem Vater Leopold, datiert vom 4. Januar 1783, wissen wir, dass Mozart seit Herbst 1782 an einer Messe arbeitete und diese offensichtlich als Dankesgabe an seine Frau vorgesehen war. Am 17. August 1782 schrieb Mozart an seinen Vater: „… mit einem Worte wir sind für einander geschaffen – und Gott, der alles anordnet und folglich auch dieses gefüget hat, wird uns nicht verlassen. An anderer Stelle schrieb Mozart, er habe in seinem Herzen versprochen, wenn er sie als seine Frau nach Salzburg brächte, dort eine neukomponierte Messe zur Aufführung zu bringen. Mit diesem Gefühl der Frömmigkeit und Liebe muss Mozart mit der Komposition der c-Moll Messebegonnen haben, die er am 26. Oktober 1783 in der Salzburger Peterskirche mit seiner Frau Constanze als Sopran-Solistin aufführen wollte. Aus dem Tagebuch von Mozarts Schwester Nannerl ist zwar überliefert, dass an diesem Tag tatsächlich eine Messe aufgeführt wurde, sie schrieb aber nicht, um welche Messvertonung es sich genau handelte. Vielleicht waren es Teile der c-Moll-Messe, vielleicht aber auch nicht, denn es fehlen dafür eindeutige Belege.

Aber warum blieb die Messe unvollendet? Die Erklärungsversuche bleiben spekulativ. Der Josephinismus der Katholische Aufklärung, abgeleitet vom Kaiser Joseph II., mag eine Rolle gespielt haben: die Aufführungsbedingungen für die klassische, katholische Kirchenmusik unter der Herrschaft Josephs II. hatten sich so deutlich verschlechtert, dass es praktisch keinem österreichischen Komponisten möglich war, größer besetzte Kirchenmusik aufzuführen, was sich erst nach dem vergleichsweise frühen Tod des Kaisers im Jahr 1790 ändern sollte.

So veröffentlichte Erzbischof Colloredo am 29. Juni 1782 in einem Hirtenbrief zur 1200-Jahrfeier des Bistums: „Wir verordnen demnach und befehlen hiermit gemessenst, daß mit Anfange künftigen 1783ten Jahres in allen Kirchen unseres Fürstlichen Erzstiftes, wo kein ordentlicher Chor gehalten wird [Anm.: also in allen, außer den Stifts- und Klosterkirchen], bey allen Lob- und Seelenämtern, bey Litaneyen, vor und nach der Predigt, bey Processionen, vor und nach den Christenlehren, vor und nach der Schule und bey jeder anderer schicklichen Gelegenheit diese Liedersammlung [Anm.: gemeint ist das 1777 in Landshut erschienene Gesangbuch ‚Der Heilige Gesang zum Gottesdienst in der römisch-katholischen Kirche’von Kohlbrenner/Hauner] fleißig und nirgends eine andere Musik oder Gesang mehr gebraucht werden solle; gleichwie auch Wir, wenn Wir in eine der obgedachten Kirchen kommen, nichts anders als Gesänge aus nur gedachter Sammlung hören wollen [...]“

Es gibt aber auch weitere Motive, warum Mozart die Messe nicht vollendet haben könnte. Der Musikforscher und Publizist Benjamin Gunnar-Cohrs mutmaßt: „Dafür mag ein ganzes Ursachenbündel verantwortlich sein – vielleicht schon der schmerzliche Tod des kaum zwei Monate alten Sohnes Raimund Leopold am 9. August 1783, die Beschränkungen der Kirchenmusik durch Joseph II., die kaum Hoffnung auf weitere Aufführungen zuließen, vielleicht aber auch eine Abwendung Mozarts vom dogmatischen Katholizismus hin zum Freimaurertum am 14. Dezember 1784“. Mozart hatte möglicherweise das Interesse an christlicher Theologie verloren.

Das überlieferte Aufführungsmaterial lässt zumindest den Schluss zu, dass zu dieser Zeit Kyrie, Gloria sowie Sanctus und Benedictus fertig waren. Das Credo war, bis auf zwei allerdings nicht fertig instrumentierte Sätze, unvollendet. Leider war das weitere Schicksal von Teilen der erhaltenen Partitur recht wechselhaft: Teile gingen verloren und dass sich beispielsweise das Sanctus überhaupt rekonstruieren ließ, ist dem Augsburger Chordirektor Matthäus Fischer zu verdanken, der sich um 1802 für Studienzwecke aus den Stimmen eine Partitur herausschrieb, bevor die Autographen von Sanctus und Benedictus sowie Osanna in excelsis endgültig verschwanden.

 

Neue Verwertung der Komposition

Im Jahr 1784 griff Mozart auf das Kyrieund Gloria zu und verwendete die beiden Sätze mit neuen Texten und kompositorischen Ergänzungen für die Kantate Davidde Penetente (KV 469). Grund dafür war, dass die Wiener Tonkünstlersozietät, eine Rentenkasse für die Witwen und Waisen von Berufsmusikern, von Mozart ein Chorwerk für ihre Benefizkonzerte erbeten hatte. Für Mozart war es vermutlich eine passende Gelegenheit, die Musik der unvollendeten c-Moll Messe wenigstens in Teilen in Wien zu Gehör zu bringen, wenngleich auch in italienischer Sprache mit einem geistlichen Text über den reumütigen David im Stil biblischer Buß- und Reuegebete. Dies spricht für Mozarts eigener Wertschätzung seiner Komposition aus dem Torso der c-Moll Messe.

An Versuchen, den Torso der unvollendeten c-Moll-Messe zu vervollständigen, hat es nicht gefehlt. Fakt ist aber auch, dass die Messe bereits in ihrer überlieferten Gestalt – eben als Torso – beeindruckend genug ist. Dokumentiert ist eine Aufführung einer Vervollständigung der Messe durch den Kapellmeister Joseph Drechsler des Wiener Stephansdoms am 15. November 1847; das Notenmaterial ist jedoch verschollen. Die erste Publikation einer vervollständigten Messe im Jahre 1901 bei Breitkopf und Härtel geht auf den Dresdner Dirigent Alois Schmitt zurück. Die fehlenden Sätze ergänzte Schmitt aus anderen Messvertonungen Mozarts. Ferner ergänzte Schmitt das Sanctus zur Achtstimmigkeit und konstruierte das (fehlende) Agnus Dei, indem er den Noten des Kyrie einen neuen Text unterlegte. Howard Chandler Robbins Landon beschränkte seine Vervollständigung auf eine vorsichtige Instrumentierung und ein doppelchöriges Sanctus sowie die Erstellung einer Doppelfuge im Osanna in excelsis.

Im Jahr 1989 erschien eine Vervollständigung der Messe des Weingartener (Landkreis Ravensburg) Bratschisten und Herausgebers Franz Beyer bei Edition Peters. Diese Fassung wird auch am 22. Oktober in der Schlosskirche Friedrichshafen zu hören sein. Weitere Rekonstruktionen gibt es von Richard Maunder (Oxford University Press, 1990), Benjamin-Gunnar Cohrs (2010), Philip Wilby (Novello, 2004), Robert Levin (Carus-Verlag, 2005) sowie von Ton Koopman (2006).

 

Einflüsse: Mozart, die Große Messe in c-Moll und Bach

Es ist überliefert, dass Mozart Werke anderer großer Komponisten wie zum Beispiel Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel studierte und davon teilweise eigene Fassungen schuf. Erinnert sei beispielsweise an Händels Messias, von dem eine Mozart’sche Fassung existiert. Bachs und Händels Einfluss auf Mozart sind evident. Beispielsweise erinnert Mozarts Chorsatz Qui tollis im Teil Gloria der c-Moll Messe deutlich an die h-Moll Messe von Johann Sebastian Bach. Wie sehr wohl Mozart den ehemaligen Thomaskantor Bach geschätzt hat, ist aus der folgenden Anekdote erkennbar:

Im Frühjahre 1789 regte sich in Mozart auf’s Neue wieder der Reisetrieb, und zwar dieß Mal mit um so mehr Macht, als nicht nur die schöne Jahreszeit, sondern auch bedeutende finanzielle Verlegenheiten in's Spiel kamen. Einer seiner Schüler, der Fürst Lichnowsky, bot ihm seine Begleitung und seinen Wagen bis Berlin an. Man hatte Leipzig und Dresden zu passiren, welche beide Städte Mozart noch nicht besucht hatte. Von Dresden wissen wir nichts zu berichten; aber ein Mann, der Mozart oft in Leipzig gesehen hat, hat über seinen Aufenthalt in dieser Stadt Nachrichten aufbewahrt, die uns aus keiner bessern Quelle zufließen konnten. Dieser Zeitgenosse ist der im Jahre 1842 in Leipzig verstorbene Hofrath Rochlitz, ein Kritiker voll Wissen und Geschmack, ein ausgezeichneter Schriftsteller und Gründer der Leipziger musikalischen Zeitung, welche er bis zum Jahre 1819 redigirte. Kaum war Mozart angelangt, als ihn alle musikalischen Notabilitäten der Stadt beglückwünschten, und ihm den Wunsch zu erkennen gaben, ihn öffentlich zu hören. [ ... ] Auf Bitten seiner Freunde, der Inhaber von Freibillets wahrscheinlich, spielte Mozart auf der Orgel der St. Thomaskirche. Ein Schüler Sebastian Bach's, der alte ehrwürdige Doles, hatte nach seinem Meister die Anstellung als Cantor (Musik- und Gesanglehrer) an der berühmten Thomasschule erhalten. Mozart's Spiel brachte auf diesen einen schwer zu beschreibenden Eindruck hervor. »Ich meinte,« sagte dieser, »der alte Bach sei wieder aufgestanden.« Doles nahm den lebhaftesten Antheil an dem Manne, dessen mächtiges Talent zum ersten Male seit vierzig Jahren mit dem glorreichen Andenken rivalisirte, welches er heraufbeschworen hatte. Die Erkenntlichkeit des guten alten Mannes, für eine so große Freude, veranlaßte ihn auf ein Mittel zu sinnen, durch welches er Mozart einen Gegendienst zu leisten vermochte. Endlich glaubte er eines gefunden zu haben. Zu jener Zeit waren Bach's Werke noch in wenigen Händen. Mozart selbst, der sein ganzes Leben hindurch Bach studirte, scheint nur die Fugen und die Präludien für Orgel und Clavier, nicht aber die Vocalcompositionen des Patriarchen der deutschen Musik gekannt zu haben. Doles ließ daher seine Schüler die Motette mit Doppelchor ihm vorsingen: »Singet dem Herrn ein neues Lied«, ohne ihm zu sagen, von wem es wäre. Gleich bei den ersten Tacten stutzte Mozart; nach einigen weiteren Tacten aber rief er aus: »Was ist das?« Und nun schien seine ganze Seele in seinen Ohren zu sein. Als die Motette zu Ende war, sagte er mit vor Freude strahlendem Gesichte: »Das ist doch einmal Etwas, aus dem sich was lernen läßt.«

Aus: Alexander Ulibischeff, „Mozart’s Leben und Werke“ Band 2 (1859)
Quelle: www.zeno.org - Contumax GmbH & Co.KG

Anmerkung: Johann Friedrich Doles (1756-1789) war als Thomaskantor in Leipzig der Nach-Nachfolger von Johann Sebastian Bach.

Zusammengestellt von B.Conrads