Th. Selle und das Hamburger Musikleben Anfang des 17. Jahrhunderts


Thomas Selles Leben und Wirken fällt in die Blütezeit des Kantorentums. Insbesondere nach seiner Berufung an das Johanneum in Hamburg (1641) führte er Hamburgs Kirchenmusik zu ihrem Höhepunkt und begründete zugleich die Gattung der oratorischen Passion, die zum wichtigsten Zweig der Passionsvertonungen wurde. So bedeutende Werke wie die Passionen von Johann Sebastian Bach gingen daraus hervor.

Hamburg, günstig an der Elbe gelegen und über sie an den Atlantik angebunden, war zu Selles Zeit eine wohlhabende Handelsstadt. Von der Gegenreformation kaum berührt konnten sich die Bürger, die sich durch den Rat selbst verwalteten, in ihrer Prunkliebe frei entfalten. Mächtige Kaufleute und Advokaten förderten mit ihren Mitteln nicht zuletzt das Musikleben der Stadt. Nachdem sich die Hamburger Bürger für die Reformation entschieden und die Aufhebung der Klöster sowie die Entmachtung des Domkapitels veranlasst hatten, wurde das Johanneum mit der neu errichteten Lateinschule im alten Johanniskloster Nachfolgerin der Domschule und damit Mittelpunkt der kirchenmusikalischen Praxis in Hamburg. Wie es die neue Kirchenordnung nach Johannes Bugenhagen vorsah, war die gesamte Kirchenmusik unter der Verantwortung des Kantors zusammengefasst. Dessen Stellung rangierte gleich hinter dem Rektor und Konrektor der Schule. Der Kantor hatte damit die vier Hauptkirchen St. Petri, St. Nicolai, St. Catharinen und St. Jacobi mit Kirchenmusik zu versorgen. Dafür standen ihm vier Kollegen, der jeweilige Küster und neben dem eigenen Chor aus Lateinschülern auch die Gemeindeschulen für den Sakralgesang zur Verfügung. Für weltliche Anlässe, Hochzeiten und Begräbnisse konnte der Kantor über Ratsmusiker (die oft mehrere Instrumente beherrschten) und diverse Gehilfen (Rollbrüder) verfügen. Dazu kamen hochbezahlte, fremde Musiker, die man sich bei wichtigen kirchenmusikalischen Ereignissen von Zeit zu Zeit leistete.

Selles Kompositionsstil schloss sich nach seinen eigenen Worten der alten, deutschen Vorliebe für volle Klangwirkung an, so wie beispielsweise die von Michael Prätorius. Seine Abneigung geben bloße und fast geringstimmige Klänge ist aus der barocken Monumentalmusik, die er geschaffen hat, deutlich abzulesen, obwohl sie angesichts des Dreißigjährigen Krieges und der daraus resultierenden materiellen Armut unzeitgemäß erscheinen musste. Dies könnte der Grund sein, warum er Bekanntheit mit seinen liedhaft-schlichten, choralartigen Rist-Vertonungen erlangte, die nichts mehr mit seinen früher komponierten, weltlichen Gesängen zu tun hatten. Sie bedeuteten einen stilistischen Neuansatz.

Selle schuf neben einer Matthäus-Passion (1642), die hier unberücksichtigt bleibt, zwei Versionen der Johannes-Passion, Jahr 1641 ohne und zwei Jahre später mit Intermedien. Hinsichtlich der Rezitative und den Turbae-Chören sind diese Versionen quasi nicht zu unterscheiden. Die Textauswahl, die nicht unerhebliche Kürzungen bis in Halbverse hinein sowie Verschmelzungen von Versen einschließt, geht auf die Johannes-Passion von Joachim a Burck (1568) zurück. Die Intermedien, eingeschobene Vertonungen von kontemplativen und nicht aus dem Evangelium kommenden Texten, benutzen einen Text aus dem Buch Jesaja (53, 4 ff.) und einen Psalmtext (22, 2 ff.). Es kommen alle Dur-Akkorde von F- bis A-Dur und Es-Dur in der anderen Richtung vor. Die Deklamation stützt sich neben Metrum und Rhythmus auch auf harmonische Entwicklungen. Ein solches vom Lektionston (festes Melodiemodell für Lesungen) freies, begleitetes Rezitativ sollte sich in der Folgezeit durchsetzen und fand in Bachs Oeuvre seine Vollendung. Ebenso frei sind die Turbae-Chöre komponiert. Sie bekommen, harmonisch abwechslungsreich komponiert, neben dem alten Ideal der akustischen Verständlichkeit auch eine klangsinnliche Funktion. Zuweilen findet man sogar Andeutungen von Tonmalerei und Chromatik.

Ihrer musikalischen Anlage nach sind Selles Intermedien geistliche Konzerte für jeweils einen alternatim musizierenden Solo- und Tutti-Chor. Auf satztechnisch kunstvolle Weise werden den einzelnen im Text vorkommenden Gedanken und Bildern musikalische Motive zugeordnet, wie zum Beispiel Koloraturen, chromatische Einheiten, Sequenzen, Triller sowie unvermittelte Generalpausen. Im dritten Intermedium wird zudem mit starken dynamischen Gegensätzen und Taktwechseln gearbeitet.

Selle brachte seine Passionen zuerst in Hamburgs Nebenkirchen zur Aufführung. Später folgten Aufführungen in den Hauptkirchen. Von Hamburg aus breitete sich die oratorische Passion in ganz Norddeutschland aus, die dadurch, musikhistorisch betrachtet, im Laufe des 17. Jahrhunderts für Passionsvertonungen die Führung in Deutschland übernahm.

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