Rossini: Petite Messe solennelle

Eine Werkbeschreibung von Michael Wersin.
entnommen aus "Reclams Führer zur lateinischen Kirchenmusik" mit freundlicher Genehmigung des Verlags Philipp Reclam jun., Stuttgart.

DiePetite Messe solennellevon Gioachino Rossini (1792-1868), entstanden 1863 in Passy bei Paris, wo der Komponist seit 1855 lebte, ist ein Kuriosum innerhalb der Geschichte der Messvertonung: Das petite im Titel bezieht sich sicher nicht auf die Länge des Stücks (denn die ist, entsprechend ihrer Ausarbeitung als Messe solennelle, beträchtlich), sondern eher auf die ungewöhnliche Besetzung: Ein Chor von zwölf Sängern („Drei Geschlechter: Männer, Frauen und Kastraten“ sieht Rossini vor), von denen vier das Solistenquartett stellen, wird von zwei Klavieren und einem Harmonium begleitet. Der praktische Grund für die Knappheit dieser Besetzung erklärt sich möglicherweise aus der Bestimmung der Messe als Einweihungsmusik für die Privatkapelle des Pariser Grafen Pillet-Will; gleichzeitig treibt Rossini jedoch auch Schabernack mit dem ungewöhnlichen Instrumentarium und mit der überaus sinnenfreudigen musikalischen Ausgestaltung: Als „leider letzte Todsünde meines Alters“ bezeichnet er das Werk in einem launigen Einführungstext auf dem zweiten Titelblatt der Partitur, und im Manuskript findet sich am Ende des Agnus Dei eine Notiz, in der Rossini scherzhaft um die Gewährung des Paradieses bittet und mit einem Wortspiel („musique sacrée“ = heilige Musik, „sacrée musique“ = verdammte Musik) den opernhaften Duktus des Werks selbst bespöttelt.

Durch die Ausdrucksstärke seiner – an der Oper geschulten – Melodik in Verbindung mit überaus kreativer und kraftvoller Harmonik gelingt Rossini die überzeugende Einbindung des ehrwürdigen liturgischen Textes in eine sehr extrovertierte, mit großer sängerischer Geste operierende, allerdings niemals oberflächliche Musik. Hinsichtlich der äußeren Form folgt er dem Vorbild der klassischen Nummernmesse: Das dreiteilige Kyrie mit knappem, Stile-antico-generierten A-capella-Christe kommt noch ohne Solisten aus; das Gloria gliedert sich in sieben Teile, von denen der dritte bis fünfte rein solistisch ausgeführt werden: Gratias agimus tibi erklingt als Terzett ATB, Domine Deus ist eine prachtvolle Tenorarie (die als Gegenstück zum Cujus animam gementem in Rossinis Stabat Mater gelten kann), Quoniam gestaltet Rossini als nicht minder reizvolle Bassarie. Der sechste Teil des Gloria(Cum Sancto Spiritu) entspricht musikalisch, von durch den anderen Text notwendigen Anpassungen und einer variierten instrumentalen Überleitung abgesehen, zunächst dem ersten Teil; er mündet dann jedoch in eine gewaltige Fuge , deren Thema mit einem Kleinseptimsprung aufwärts äußerst energiegeladen anlautet. Die beiden hier unisono geführten Klaviere treiben das polyphone Geschehen mit einem fast pausenlos laufenden, Akkordbrechungen liefernden Achtelbass an, akzentuiert durch kurze angestochene Akkorde im Diskant; das Harmonium stützt den Chorsatz. Ein nochmaliges Aufgreifen der Musik des ersten Gloria-Teils – nun in modifizierter Form – markiert einen Einschnitt, dem eine Amen-Stretta folgt. Schon im Christe, spätestens aber in der Schlussfuge des Gloria erweist sich Rossini als Meister des traditionellen polyphonen Satzes; kontrapunktische Strukturen stehen in seiner Petite Messe beinahe gleichberechtigt neben dem erwähnten opernhaften, melodiekonzentrierten Tonfall, auch wenn Rossini sich im erwähnten Vorwort diesbezüglich mit bewusster Koketterie unter Wert verkauft („Wenig Wissenschaft, ein bisschen Herz, das ist alles“).

Viel stärker noch als im Gloria schafft Rossini im Credo (scherzhaft überschrieben mit „Allegro cristiano“) große Zusammenhänge durch variierende Wiederverwendung von musikalischem Material: im ersten Teil setzt er, die liturgische Textvorlage nach dem Vorbild der klassischen Credo-Messe erweiternd, viermal mit einem doppelten Credo-Ruf über Klavier-Tremoli an, der sich harmonisch jeweils von spannungsvoller Dissonanz zum reinen Dur-Dreiklang entwickelt; es folgt jeweils ein anderer Textabschnitt, gesetzt weitgehend auf der Basis desselben motivischen Materials, das jedoch in immer neue Richtungen strebt. Das anschließende Crucifixus ist eine herrliche Sopranarie (Andante sostenuto) mit faszinierend expressiven Kantilenen, überwiegend bewegter Begleitung des ersten Klaviers, akkordisch gestützt und verdichtet durch das Harmonium. Der weitere Verlauf des Credo (Et resurrexit) speist sich musikalisch wiederum aus dem Material des ersten Teils, zwischengeschaltete Credo-Rufe inbegriffen. Schließlich mündet auch dieser Satz in eine große Fuge.

Auf das Credo folgt ein instrumentales Offertorium für das erste Klavier, dessen ausgedehnte chromatische Fuge Rossinis Interesse an der Musik Johann Sebastian Bachs widerspiegelt. An das knapp gehaltene Sanctus schließt sich als Gesang zur Elevation die allein vom ersten Klavier begleitete Sopranarie O salutaris hostia an (der Text entstammt dem Fronleichnamhymnus Verbum supernum prodiens und erklang vor allem in der französischen Liturgie häufig an dieser Stelle). Im Agnus Dei, das Altsolisten und Chor zunächst in drei, jeweils auf der Basis desselben musikalischen Materials variierten Anläufen responsorial beginnen, um sich dann zu gemeinsamem Gesang zu vereinigen, holt Rossini nochmals zu gewaltigster Kraftentfaltung bei immenser struktureller Dichte aus.