"Christus", ein Fragment im Spannungsfeld zwischen Christentum und Judentum.


In seinem letzten Lebensjahr begann Felix Mendelssohn-Bartholdy zwei Libretti zu vertonen, zum einen die Loreley als seine erste Oper und zum anderen Christus, das wahrscheinlich das umfangreichste Werk in seinem Œuvre hätte werden können. Sein sehr früher Tod, der Komponist verstarb 1847 im Alter von erst 38 Jahren an den Folgen eines Gehirnschlags, verhinderte allerdings die Fertigstellung beider Werke, die somit Fragmente geblieben sind. Das Libretto des Oratoriums Christus von Christian Carl Josias Bunsen ist seit den 1930er Jahren verschollen, weshalb ein von Mendelssohn und Bunsen möglicherweise angedachter Gesamtplan und damit der geplante Umfang des Oratoriums sich nicht mehr rekonstruieren lässt.

Anhand des vorhandenen Materials mit einer Aufführungsdauer von 20 Minuten ließe sich jedoch auf die Zeiten der geringstenfalls noch zu vertonenden Texte schließen. Man käme dabei auf eine Gesamtdauer von zweieinhalb bis drei Stunden. Zum Vergleich: die beiden erhaltenen Oratorien Paulus und Elias dauern jeweils 130 Minuten. Die Musikforschung ging bis vor kurzem von einem dreiteiligen Werk aus, das die Geburt, das Sterben und die Auferstehung Christi vertont. Diese Einteilung wird inzwischen von manchen Musikwissenschaftlern als höchst fragwürdig angesehen, hat sich aber trotzdem bis in die aktuelle Partiturausgabe hinein erhalten.

Auf dem deutschen Markt sind derzeit zwei Partiturausgaben erhältlich. Die ältere 1984 bei Breitkopf und Härtel erschienende Edition orientiert sich an die Erstausgabe, die neuere Ausgabe, erschienen 1994 beim Carus-Verlag, ist hingegen eine völlig neue Übertragung aus dem Autograph. Die Kantorei an der Schlosskirche wird aus dieser Edition den Passionsteil singen.

Die Betrachtung des Oratoriums Christus ist nicht ohne eine Auseinandersetzung mit der religiösen Identität Mendelssohn möglich. Der jüdischen Herkunft auf der einen Seite steht seine protestantische Taufe (21. März 1816) auf der anderen Seite gegenüber. Dieser Identitätskonflikt ist Gegenstand einer sich bis heute hinziehenden Debatte über Mendelssohns Œuvre. Diese Diskussion war teilweise leider nicht ohne antisemitische Motivation, wie zum Beispiel in Richard Wagners Veröffentlichung „Das Judentum in der Musik“ und mündete nach Diffamierungen im Dritten Reich in ein Verbot der Aufführung Mendelssohn’scher Werke.

Die Frage, in wieweit sich Mendelssohn als Protestant oder als Jude gefühlt hat, erscheint durchaus wichtig, denn die Frage der religiösen Identität Mendelssohns hat gerade beim Oratorium Christus Relevanz. Jesus von Nazareth wird von den Christen als der Messias angesehen, während er für die Juden nicht mehr als ein Prophet, Rabbi, vielleicht Sozialrevolutionär oder Freiheitskämpfer war. Deshalb macht es durchaus einen großen Unterschied, aus welchem Glauben heraus Mendelssohn das Oratorium geschrieben hat.

In der Diskussion um Mendelssohns religiöser Identität divergieren die Ansichten bis in die heutige Zeit. Mendelssohn war einerseits in eine jüdische Familie hineingeboren, wurde andererseits 1816 protestantisch getauft. Seine Eltern konvertierten erst 1822 zum Christentum. Hing er zum einen zwar protestantischen Theologen an und waren auch seine besten Freunde Protestanten, so wurde er andererseits abstammungsbedingt immer wieder als Jude gesehen. Wurde er von deutschen Christen als opportunistischer Neu-Christ betrachtet, warfen ihm Konvertierte fehlenden Bezug zu seinen Wurzeln vor. Mendelssohns Musik war einerseits auf der ganzen Welt geschätzt, andererseits aus antisemitistischen Gründen abgelehnt. Kam dadurch seine Musik immer mehr in Verruf bis zum Aufführungsverbot in Deutschland, so wurde der Komponist nach 1945 im Überschwang eines gut gemeinten Wiedergutmachungsgedankens unzutreffend als jüdischer Vorzeigekomponist etikettiert.

Leider gibt es von Felix Mendelssohn keine direkten Bekenntnisse seiner Glaubensausprägung, sondern nur zu seinem Gottesglauben an sich. Allerdings sind alle Annahmen einer jüdischen Identität insbesondere dadurch problematisch, weil Mendelssohn den Anspruch hatte, dass seine Werke authentisch seien und seiner inneren Überzeugung entsprechen mussten. Die überaus große Anzahl christlicher Werke zeugen daher von einem entsprechenden christlichen Glauben, während das gänzliche Fehlen jüdischer Musik den jüdischen Glauben eher ausschließt. Dazu fällt sein sehr starkes Interesse am protestantischen Choral und der geistlichen Musik Johann Sebastian Bachs auf. Ähnlich wie Bach seine Autographe mit „S.D.G.“ (Soli Deo Gloria: Allein Gott zu Ehren) abschloss, schrieb Mendelssohn „L.e.g.G.“ (Lass es gelingen Gott) oder „H.D.m.“ (Hilf Du mir) auf die Notenblätter.

Zweifellos war Felix Mendelssohn durch die Ablehnung des Judentums durch seinem Vater und durch seine deshalb rein protestantische Erziehung sehr geprägt. Auch wenn Mendelssohn andererseits einen großen Respekt und vielleicht auch eine traditionsbedingte Verantwortung für das Judentum empfand, die aus dem starken jüdischen Familiengeist der mütterlichen Seite und der Achtung des Großvaters Moses Mendelssohn entsprang, so werden trotzdem in Felix Mendelssohns Korrespondenz kaum Juden erwähnt, und wenn, dann unprätentiös und in dritter Person verfasst.

Der Tod seines Vaters verursachte auf Felix Mendelssohns Sicht auf Juden allerdings eine Kehrtwende. Mehr und mehr schien er seine jüdische Herkunft anzuerkennen und in seinen christlichen Glauben einzubeziehen. Er akzeptierte das Christentum als eine aus dem Judentum hervorgegangene Religion. Diese Kehrtwende findet sich insbesondere in späten Werken wieder und hat im Oratorium Christus seinen Höhepunkt, indem Mendelssohn dort alles Antisemitische aus den Texten streicht und im Gegenzug projüdische Konnotationen herausarbeitet. So ändert beispielsweise Mendelssohn Texte des Passionsteils ab, aus „Juden“ wird das „Volk“ und aus „im jüdischen Lande“ macht Mendelssohn „im ganze Lande“. Ferner streicht Mendelssohn die Szene, in der Pilatus der Menschenmenge den Mörder Barrabas gegenüber Jesus zur Wahl stellt, um einen ganz nach der „Gewohnheit des Festes“ frei zu geben, da dieser Brauch sich eindeutig auf das jüdische Pascha-Fest bezieht.

Mendelssohn konnte damit im Sinne einer historischen Abhängigkeit des Christentums vom Judentum plötzlich Christ sein, ohne seine jüdische Abstammung leugnen zu müssten. Das Fragment des „Christus“ ist damit ein Spiegel des Lebens des Komponisten, das zwar christlich war, aber jüdische Wurzeln hatte.

Bei der Betrachtung der musikalischen Umsetzung des Oratoriums, die hier nur kurz angerissen sein soll, muss man sich daran erinnern, dass es sich um ein Fragment handelt und somit um Kompositionen, die sich sehr wahrscheinlich im Stadium eines Entwurfs befanden und immer noch befinden. Von Mendelssohn ist es bekannt, dass er Kompositionen oft nach der Erstaufführung sogar mehrfach überarbeit hatte.

Felix Mendelssohns Werk und ganz besonders „Christus“ ist zweifellos von G.F. Händel und noch stärker von Johann Sebastian Bach stark beeinflusst. Die Rezitative des Evangelisten und die höchst dramatischen, emotionalen Turbachöre, aber auch die kontemplativen Choräle zeigen klar den Einfluss des Thomaskantors. Die Häufung der homophonen Turbachöre erhöhen die Textverständlichkeit und heben die Gewalt der Volkesstimme besonders hervor. Der Chor „Ihr Töchter Zions“ gestaltet sich zu einer Mahnung. Die im Rezitativ vorweg erwähnten und hier angesprochenen Klagefrauen nehmen einem jüdischen Ritual gemäß die Totenklage vorweg. Der Satz drückt treffend zugleich Klage und Hoffnung, Trauer und Zuspruch aus. Die Aufforderung, über sich selbst zu weinen, ist als Aufruf zur Umkehr und Buße zu verstehen. Der Passus aus dem Lukasevangelium „weint nicht über mich“ fehlt allerdings im Libretto.

Die Melodie des am Schluss des Fragments stehenden Chorals stammt von Georg Forsters Choral „O Welt ich muss dich lassen" und geht auf das Instrumentallied „Insbruck ich muss dich lassen“ des flämischen Komponisten Heinrich Isaac zurück. Der Text greift auf Strophen von Paul Gerhardts „O Welt, sieh’ hier dein Leben“ und „Nun ruhen alle Wälder“ zurück. Die verwendeten Texte entsprechen mit Modifikationen den Strophen 6 und 2 der jeweiligen Originale, passen aber inhaltlich und stilistisch eigentlich nicht zusammen. Eine Erklärung könnte sein, dass Mendelssohn gar nicht beabsichtigt hatte, beide Strophen hintereinander einzusetzen.

Das Lied „O Welt, sieh’ hier dein Leben“, aus dem der Text der ersten Strophe stammt, ist eine Kommentierung des Leidensweges Christi. Die daraus verwendete sechste Strophe „Er nimmt auf seinen Rücken“ stellte eine Umschreibung der Last dar, die Jesus durch sein Kreuz tatsächlich und auch im übertragenden Sinne übernommen hat. Durch seinen Tod hat er die Welt erlöst. Sie steht treffend im Zusammenhang mit Jesu Gang nach Golgatha mit dem Kreuz auf dem Rücken. Dieser Choral steht somit im Gesamtplan des Oratoriums an der richtigen Stelle.

Die Zweite Strophe „Wo bist Du, Sonne geblieben“ stammt aus einem Abendlied, das im übertragenden Sinne vom Sterben des irdischen Lebens handelt. Dessen verwendete zweite Strophe ist eine Zusicherung des Weiterlebens nach dem Tode. Der Text „Wo bist Du Sonne blieben“ greift die Finsternis auf, die nach dem Tod Jesu über das Land kam. Somit wäre eine von Mendelssohn intendierte im Satzablauf etwas spätere Verwendung durchaus denkbar, denn man darf bei Betrachtungen des Oratoriums Christus nicht aus den Augen verlieren, dass es sich um ein Fragment mit „Entwurfscharakter“ handelt. (bc)