Felix Mendelssohns Choralkantate
"O Haupt voll Blut und Wunden"


Felix Mendelssohn-Bartholdy schrieb in den Jahren zwischen 1827 und 1832 eine Reihe von Choralkantaten, darunter auch die Choralkantate „O Haupt voll Blut und Wunden“, die Mendelssohn im September 1830 in Wien vervollständigte. Die Kantate ist quasi ein Nebenprodukt von Mendelssohns Wiederaufführung der Matthäuspassion von J.S. Bach (1685-1750), die in einer von ihm stark überarbeiteten, gekürzten Version im Jahr 1829 in Berlin erklang, nachdem sie fast 100 Jahre lang in Vergessenheit geraten war. Der Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ taucht dort in satztechnischen und textlichen Variationen fünf Mal auf und es liegt daher durchaus nahe, dass eben dieser Choral der Bach’schen Matthäuspassion Mendelssohns Inspiration und Vorlage zu seiner gleichnamigen Choralkantate war.

Ein weiterer Impuls zur Komposition dieser Kantate könnte durchaus auch von der Passionsvertonung „Der Tod Jesu“ von Carl Heinrich Graun (1704-1759) mit Texten des Dichters Carl Wilhelm Ramler (1725-1798) gekommen sein. Dieses Werk wurde 2003 von der Kantorei an der Schlosskirche aufgeführt. Grauns Passionmusik wurde von dem Musiktheoretiker und Komponisten Johann Phillipp Kirnberger (1721-1783) in seiner 1771 erschienenen musiktheoretischen Abhandlung „Die Kunst des reinen Satzes in der Musik“ zitiert und war daher Mendelssohns Lehrer Carl Friedrich Zelter (1758-1832) bestens bekannt, zumal Zelter als Student Kirnberger persönlich gekannt hatte. Grauns Passionsmusik beginnt mit dem Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“, allerdings mit einer Textunterlegung von Ramler (Du dessen Augen flossen, sobald sie Zion sah’n).

Mendelssohn wird vermutlich reichlich Gelegenheit gehabt haben, Grauns Musik zu studieren. Zudem wissen wir, dass Mendelssohn zwei Monate nach der Fertigstellung seiner Choralkantate in Rom im November 1830 eine Aufführung von Grauns „Der Tod Jesu“ gesehen bzw. gehört hatte. Mendelssohns starkem Interesse an den Kompositionen von J.S. Bach ist es sicherlich zuzuschreiben, dass er sich zeitlebens mit Chorälen beschäftigte. Mendelssohn Choralkantaten, wie auch „O Haupt voll Blut und Wunden“, spiegeln durchaus seine zuweilen ungenierte Imitation des Thomaskantors wieder und entsprechen der Praxis eines eifrigen Studenten des 18. Jahrhunderts, Kirnbergers Rat zu befolgen, die Choräle Bachs gewissenhaft zu studieren.

Der Einfluss Bachs in Mendelssohns Schaffen ist evident. Bereits zehn Jahre, bevor Mendelssohn die Choralkantate „O Haupt voll Blut und Wunden“ schrieb, hatte sich der Komponist bereits eingehend mit Harmonielehre und Kontrapunkt befasst und schrieb vierstimmige Choräle zu Texten von C.F. Gellert. Aus Mendelssohns überaus umfangreicher Fülle an überlieferten Dokumenten, insbesondere seiner Korrespondenz, lässt sich die Entwicklung der Kantate sehr gut nachvollziehen. Mendelssohns Brief an seine Schwester Rebecca, datiert vom 22. August 1830, enthält den ersten, bekannten Bezug zu der Kantate.

Demnach ging die erste Inspiration, diese Choralkantate zu schreiben von einem Gemälde, einer Kreuzigungsszene, des spanischen Malers Francisco Zurbatan aus. Am Ende des Briefes finden sich auch Hinweise bezüglich der Konzeption der Choralkantate. Mendelssohn schrieb: „Ich muss Fanny noch anvertrauen, dass die Melodie in den Sopranstimmen liegt und dazu in Oktaven von Oboen, Flöten und allen Violinen gespielt werden. Sollte sie fragen, wie die Stimmen begleitet werden, so werde ich sagen, dass ich zwei Violas, zwei Celli, Fagott und Kontrabass gewählt habe“.

Die sehr ungewöhnliche Teilung der Bratschen und Celli zu einem vierstimmigen Satz scheint deshalb von Mendelssohn gewählt worden zu sein, um den ernsten, düsteren Charakter des ersten Satzes zu verstärken. Mendelssohn äußert sich in dem besagten Brief auch zur modalen Implikation der Choralmelodie. Er schreibt: „Ich bin sehr zufrieden mit dem Stück, niemand wird in der Lage sein, sagen zu können, ob es in C-Moll oder Es-Dur geschrieben ist“. Die modale Mehrdeutigkeit ist in der Tat charakteristisch für „O Haupt“-Melodie und Mendelssohn nutzte dies aus. So ist zum Beispiel die Schlusskadenz des Chores in Es-Dur, die verbleibenden sieben Takte der Instrumentalstimmen modulieren über C-Moll zu dessen Dominante G-Dur.

Kirnberger hat von dem Choral bereits 1771 in seiner Schrift „Die Kunst des reinen Satzes“ drei mögliche, und zwar jeweils eine phrygische, aeolische und ionische Fassung, vorgestellt. Beide, Kirnberger und Mendelssohn, beziehen sich natürlich auf den Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ in J.S. Bachs Matthäuspassion, in der Bach diesen Choral nicht weniger als fünf Mal verwendet hatte. Drei davon (Erkenne mich mein Hüter, Ich will hier bei die stehen und Befiehl du deine Wege) bleiben innerhalb einer Tonart, sie beginnen und enden in E-Dur, Es-Dur und D-Dur. Bachs vierte Variante auf Paul Gerhardts Text „O Haupt voll Blut und Wunden“ beginnt mit einem D-Moll-Dreiklang und endet in F-Dur, während die fünfte Version des Chorals (Wenn ich einmal soll scheiden) in A-Moll beginnt und mit einer plagalen Kadenz in einen E-Dur-Akkord einmündet.

Anfang September 1830 vervollständigt Mendelssohn den zweiten Satz der Kantate, eine Arie für Bass (Du dessen Todeswunden). Dies schreibt Mendelssohn in einem Brief an Eduard Devrient, einem Schauspieler, Sänger und Theaterleiter, der 1829 in Mendelssohns Wiederaufführung der Matthäuspassion von Bach den Jesuspart sang. Der Textautor dieser Arie ist bis heute unbekannt.

Der Text des ersten und dritten Satzes der Choralkantate stammt von Paul Gerhardt, der die Strophen des Liedes in seiner gedruckten Sammlung „Geistliche Andachten bestehend in CXX Liedern“ (Berlin, 1666-1667) veröffentlicht hatte. Für den letzten und dritten Satz wähle Mendelssohn daraus die erste und sechste Strophe.