Freundeskreis für Kirchenmusik in Friedrichshafen
Die Passionsvertonungen Johann Sebastian Bachs gehören zu den Kernaufgaben eines leistungsfähigen evangelischen Kirchenchores. Die Kantorei an der Schlosskirche hat sich neben den anderen großen Passionsvertonungen Bachs der Matthäus-Passion in den Jahren 1997, 2000 und 2005 angenommen. Nach den verschiedenen Aufführungen Mendelssohn'scher Kompositionen in den letzten Jahren und Monaten - zuletzt dem "Lobgesang" - lag es nahe, in diesem Jahr das monumentale Bach-Werk in einer anderen Fassung, nämlich der von Felix Mendelssohn, zur Aufführung zu bringen. Dass das entsprechende Notenmaterial kürzlich wie gerufen auf den Markt gekommen ist, war ein weiterer Grund für die Wahl.
Nach einem "Dornröschenschlaf" von 100 Jahren war es vor allem die Tat Felix Mendelssohn Bartholdys, die Matthäus-Passion am 11. März 1829 seinen staunenden Zeitgenossen vor Augen und Ohren zu führen. Mendelssohn hatte die Größe und Bedeutung des Schaffens Bachs - und hier im Besondern der doppelchörigen Matthäus-Passion - am weitgehendsten erkannt und setzte in jugendlichem Elan als 20-Jähriger den Plan gegen große Widerstände durch, wobei der Einfluss seiner bedeutenden Familie sicher einen guten Schritt weiter geholfen haben dürfte. Aber auch idealistische Freunde standen ihm zur Seite. Die Tat gilt bis heute als musikwissenschaftliches Jahrhundertereignis und brachte erst den Durchbruch der Rezeption zum gesamten weiteren Staunen erregenden Schaffen des wohl kaum zu überschätzenden Genies. Die Matthäus-Passion wurde in der Folge des 19. Jahrhunderts auf die Stufe einer Ideenkunst mit außerordentlichem Status eingeordnet, auf der nur noch Werke wie zum Beispiel Beethovens "Missa solemnis" stehen.
Der zeitliche Abstand zum Barock mit seiner Ästhetik und seinem Zeitgeist war im ersten Teil des 19. Jahrhunderts so groß geworden, dass jene musikalische Sprache nicht mehr unmittelbar verständlich war. Eine derartige Großform von zirka drei Stunden hätte die damaligen Zuhörer überdies massiv überfordert. Mendelssohn musste also eine leichtere Fasslichkeit schaffen. Er wählte dazu unter anderem folgende Vorgehensweise:
Durch die genannten Kürzungen entfällt einiges Gewohntes und Liebgewordenes. Zugleich aber dürfte die Straffung für den einen oder anderen Zuhörer auch eine legitime Erleichterung darstellen und insbesondere für Diejenigen eher eine Hilfe sein, denen das Werk noch nicht so vertraut ist. Aus musikwissenschaftlicher Sicht ist Mendelssohns Fassung auch ein Meilenstein und Ausgangspunkt für die Entwicklung der Bach-Interpretation bis ins 20. Jahrhundert.
Ob Mendelssohns Kürzungen und Veränderungen zu einem vertretbaren und befriedigenden Ergebnis führen, mögen die Zuhörer der Aufführung am Karfreitag am Ende für sich selbst ermessen und sich ihre eigene Meinung bilden. In jedem Fall sind die Einrichtungen Mendelssohns als "Brückenbau" und Entgegenkommen für seine Zeitgenossen unter allergrößtem Respekt und Hochachtung vor dem großen Meister Bach zu verstehen.
Neue und unbekannte Werke zur Aufführung zu bringen, ist immer wieder eine spannende Herausforderung für die Kantorei an der Schlosskirche. Die Aufführung am Karfreitag ist in diesem Horizont zu sehen. Zur Aufgabe macht sich die Kantorei auch, das Passionsgeschehen jedes Jahr neu und auf andere Weise lebendig werden zu lassen. Möge das Anliegen auch in diesem neuen musikalischen „Gewand" gelingen, zusammen mit ihren geschätzten Zuhörern jenem Geheimnis näher zu kommen, dass im Leiden das “Samenkorn“ der österlichen Erlösung liegt.
Sönke Wittnebel