Das 1748 in Rudolstadt (Thüringen) gedruckte Textbuch zur Passionsmusik, das Georg Gebel als Komponist allerdings nicht explizit ausweist, lässt keinen Zweifel: Von Karmontag bis Karsamstag wurde „Der | Leidende, Sterbende und | Begrabene | Jesus, | | bey dem in der Heil. Marter=Woche | gewöhnlichen Gottesdienste[n] | In der Fürstl. Hoff=Kirche | zur Erweckung und Förderung | der Andacht | unter heiligen Bewegungen | und rührenden Weisen | betrachtet“.

Das heißt: gemäß der in Rudolstadt gepflegten liturgischen Praxis erklang in der Karwoche täglich (vermutlich in den Vespergottesdiensten) jeweils eine der sechs „Betrachtungen“ und das unvollständig überlieferte originale Aufführungsoriginal Rudolstädter Provenienz folgte dieser im Textdruck vorgegebenen Anlage genau, auch wenn die Werkabschnitte nicht „Betrachtung“ sondern dort mit "Actus 1" bis "Actus 6" bezeichnet werden.

Die Partitur zum Werk jedoch, eindeutig von Georg Gebels Hand geschrieben, aber ohne Werktitel und Komponistennamen überliefert, lässt erkennen, dass die Passion originär für eine andere Aufführungsmodalität vorgesehen war, denn die wohl in Übereinstimmung mit dem Textbuch von Gebel notierten Actus- bzw. Pars-Vermerke erweisen sich als nachgetragen und sind somit als Anpassung an die Rudolstädter Gegebenheiten zu werten und der nach Abschluss der 3. Betrachtung stehende Hinweis "Beschluss vor der Predigt" macht unmissverständlich deutlich, dass Gebel ursprünglich die Gesamtdarbietung des Werkes im Rahmen des Karfreitagsgottesdienstes im Sinn hatte. Für diese Annahme sprechen auch weitere Indizien. Diese lassen, erhärtet durch den Papierbefund, es beinahe zur Gewissheit werden, dass es sich bei der Erstversion der überlieferten Passion um jenes von Marpurgs Informanten mit „Paßions Oratorium“ betiteltes und wohl in Dresden zwischen 1735 und 1746 komponiertes Werk handelt.

Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang allerdings nach dem Adressaten für eine Aufführung im Ganzen, so, wie das Werk auch am 25. März 2016 in der Schlosskirche Friedrichshafen zu hören sein wird. Für wen oder welches Ensemble könnte Gebel diese Passion geschrieben haben? Eine Aufführung im Rahmen der katholischen Dresdner Hofmusik kommt dafür nicht in Betracht. Doch eine Darbietung in der evangelischen Dresdner Kreuzkirche erscheint durchaus vorstellbar, ausgeführt vom Kreuzchor. Die anspruchsvollen Chorsätze stützen diese These. Ob es dort allerdings zu einer Gesamtaufführung tatsächlich gekommen ist, bleibt eine offene Frage.

Gleich Johann Sebastian Bach widersteht Gebel der „modischen Versuchung“, ein Passions-Oratorium auf der Basis des populären Librettos „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus Christus“ von Barthold Heinrich Brockes zu komponieren. Gebel vertont, ob aus Überzeugung oder dazu angehalten sei dahingestellt, lieber den unveränderten Passionsbericht nach dem Evangelisten Johannes, der, wie zu jener Zeit üblich, durch madrigalische Sätze ergänzt wird, die auf freier Dichtung bzw. Textkompilation basieren.

Zu diesen madrigalischen Sätzen gehören neben den Arien die gewichtigen Chorsätze zu Beginn und zum Schluss der Passion sowie ein weiterer vom Chor dominierter Satz zur Eröffnung des zweiten Teiles respektive der IV. Betrachtung, der in Gebels Passion jedoch keine Neudichtung darstellt, sondern auf einer dem Alten Testament entnommenen Prosatexteinlage aus Jesaja 53,3 „Er ist um unserer Missetat willen verwundet“ basiert, und als großformatiger Chorsatz im motettischen Stil mit obligaten Instrumentalparts angelegt ist.

Für die Gesamtkonzeption des Werkes hatte die Entscheidung, sich des nahezu ungekürzten Bibeltextes in der Übersetzung Martin Luthers zu bedienen, folgenreiche Konsequenzen. Denn sollte die der Erzählung des Johannes innewohnende Dramatik in der Komposition erhalten bleiben, musste die Anzahl der betrachtenden Arien und Ariosi auf das Notwendigste beschränkt und ihre Stellung innerhalb des Passionsgeschehen genauestens überlegt sein. Auch die Anzahl der intermittierenden Choräle war in Grenzen zu halten.

Dass die am diesjährigen Karfreitag zu hörende Fassung des Werks aus dem Jahr 1748 wesentlich weniger Choräle aufweist, hängt ohne Zweifel mit Gebels Bemühungen zusammen, die gewissermaßen von ihm bemerkten Verluste an dramatischer Spannung durch Straffung des Ablaufs möglichst zu kompensieren.

Gebel bedient sich in seiner Johannes-Passion dreier Klangwelten. Erstens: Am dramatischen Bericht des Johannes sind der Erzähler (Evangelist), handelnde Einzelpersonen, die sogenannten Soliloquenten (Jesus, Ancilla, Petrus, Servus, Pilatus) sowie Gefolgsleute des Hohenpristers Kaiphas, Hoheprieser, Juden und Soldaten beteiligt, denen in den Turbachören Stimme verliehen wird. Lediglich ein höchst agil eingesetzter Basso continuo (Orgel) sowie Streicher, obligat oder colla-parte (die Begleitung durch die Instrumente ist weitgehend mit den Singstimmen identisch) mit den Singstimmen geführt, sind das Instrumentarium, das am unmittelbaren Passionsgeschehen teilnimmt. In den Secco-Rezitativen und den wenigen Accompagnati stattet Gebel die Partien der Soliloquenten mit Erstaunen erregenden und ungewöhnlichen Melodiebildungen aus, die – durch eigenwillige Harmonisierungen verstärkt – ein unbedingtes Hinhören gebieten.

Zweitens: Ebenso wie J. S. Bach widmet Gebel den Turbachören besondere Aufmerksamkeit, die zwar nicht Bachs formale Ausdehnung haben, aber in ihrer dramatischen Schlagkraft diesen keineswegs nachstehen. So können sie, wenn es der Ausdruck erfordert, geradezu streng polyphone Züge von größter, harmonischer Dichte aufweisen. Ungeklärt ist bislang, wer die madrigalischen Texte, zumeist sind es kurze Zweizeiler, verfasst beziehungsweise zusammengestellt hat.

Für Gebel war es jedoch Inspiration genug, eine außergewöhnliche, musikalische Farbpalette zu entwerfen, mit der er – der Maler, der er ja auch war – die kontemplativen wie auch aktivierenden Arien und Ensemblestücke in großer formaler und auch klanglicher Vielfalt zu gestalten wusste. Virtuosität - nicht nur in stimmlicher, sondern auch in instrumenteller Hinsicht – steht neben Schlichtheit und Versunkenheit neben aggressiver Reflexion.

An den zum Teil außergewöhnlich instrumentierten Arien wird die andere und stilistisch modernere Form- und Klangwelt des Georg Gebel deutlich fassbar. Prägnant sind zum Beispiel die jähen Tempo- und Stimmungswechsel in der Arie „Willst du mich, Welt, ergreifen“, die Gebel absichtsvoll mit „Aria furiosa“ überschrieben hat.

Die dritte klangliche Ebene, die in Gebels Passion zum Tragen kommt, bilden die das Passionsgeschehen betrachtenden Choräle. Sie sind samt und sonders schlichte, dem Ideal des reinen Satzes verpflichtete Kirchenliedsätze, deren vier Singstimmen vom Basso continuo und den Instrumenten konsequent dubliert werden. Dem Quellenbefund nach zu urteilen, hat Gebel den Chorälen keine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, denn bei der Niederschrift der autographen Partitur wurden sie vom Komponisten ausgelassen und von ihm nur durch Textmarken und „Valet“-Vermerke (Valet=Bube, Diener) angezeigt. Und in der Tat sind in der autographen Partitur die Choräle von anderer Hand notiert, möglicherweise durch Gebels Dresdner Adlatus.

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Zusammengestellt von Bernhard Conrads, weitgehend unter Verwendung von Texten aus dem Booklet der CD "Georg Gebel d. J., Johannes-Passion", erschienen 2003 unter dem Label CPO.

Biographische Infos über Georg Gebel