Anmerkungen von Sönke Wittnebel

 

Friedrich Schneiders Oratorium „Das Weltgericht“ erfuhr 1820 seine Uraufführung im Leipziger Gewandhaus. Im 19. Jahrhundert sind 200 Aufführungen belegt und zeigen die überaus große Popularität des Werkes. Das „Weltgericht“ gilt als das bedeutendste Oratorium zwischen Haydns „Schöpfung“ und Mendelssohns „Paulus“.

Seit 2011 liegt Notenmaterial aus dem Pfefferkorn-Verlag für praktische Aufführungen wieder vor; eine der Voraussetzungen der heutigen Aufführung in der Schlosskirche in Friedrichshafen.

Musikgeschichtliche Einordnung und Schaffung einer großen musikalischen Form

Es ist äußerst interessant, die Entwicklungsschritte in musikgeschichtlicher Hinsicht im „Weltgericht“ wahrzunehmen. Es gibt noch fast klassische wirkende Klänge, aber auch schon solche, die Richard Wagner den Boden bereiten (z. B. Nr. 15 c), einschließlich der Vorwegnahme des Einsatzes von quasi Leitmotiven. Ein Beispiel hierfür ist das Thema des „Engel“-Quartetts (Nr. 2) „Ein Tag ist vor ihm wie tausend Jahr, ein Augenblick die Ewigkeit“, dessen Thema in den Nummern 2, 26 und 30 - mit Text versehen gesungen - bereits in der instrumentalen Einleitung durch das erste Posaunen-Motiv anklingt und in der Nummer 30 den krönenden Abschluss des Oratoriums einleitet.
Durch die Wiederholung dieses und anderer Motive schafft Schneider trotz der vielen kleinen vorgegebenen Textabschnitte eine zusammenhängende musikalisch-inhaltliche Großform. Freilich ist dieser Zusammenhang beim erstmaligen Hören nicht leicht wahrnehmbar. Nebenbei bemerkt relativiert sich mit Blick auf die Chronologie der Komposition der immer wieder geäußerte Vorwurf, Schneider habe bei anderen abgeschrieben.

Für einen Komponisten ist es eine anspruchsvolle Aufgabe, aus einem „Puzzle“ aufeinander folgender gedichteter Worte eine zusammenhängende musikalische Form zu gestalten. Friedrich Schneider löst dies auf vielfältige Weise. Ein Beispiel wurde schon anhand des „Engel“-Quartettes erwähnt. In der orchestralen Einleitung finden sich zwei weitere Beispiele: Die Streicher stellen ein Thema vor, das der Chor in den Nummern 7 und 21 mit den Worten „Wir preisen dich, Gott, unser Heil“ aufgreift. Von den Holzbläsern werden die in der Nummer 5 später vom Chor aufgegriffenen Worte „Stärk‘ uns in gläubigem Vertraun: lass bald in deinem Licht uns schaun, was wir anbetend glauben“ ebenfalls bereits vorgestellt.

Neben diesen genannten Beispielen erklingt ein anderes, das mit der Zahl Drei verbunden ist, in Form der drei Anfangs-Akkorde, mit denen später auch der Chor seinen Part - mit dem dreimaligen „Heilig“ aus Jesaja 6,2 textiert - eröffnet. Diese Anrufung hat eine uralte Tradition, die seit den Zeiten des Alten Testamentes bis heute bekannt und gebräuchlich ist.

Eines der Beispiele findet sich im Chor Nummer 9. Dort wird das dreimalige „Halleluja“ der Engel ebenfalls dreimal vom „Chor der Menschen“ wiederholt.

Ein weiteres Mittel Schneiders zur Schaffung einer zusammenhängenden Form ist, die einzelnen Unterabschnitte mit über- und hinleitenden Zwischenspielen zu einem großen Fluss zusammen zu führen. So nimmt Schneider vorweg, was R. Wagner mit seiner „unendlichen Melodie“ dann in riesige Formen übertragen sollte.

Dabei schafft Schneider Übergänge von einer Emotion zu einer entgegengesetzten. Verbunden damit sind die Wechsel von einer „Sphäre“ in die andere (z. B. vom „Himmel“ zur „Hölle“), was die Hörenden emotional und bildhaft nachvollziehen können.
Große Unterabschnitte und die jeweiligen Schlusschöre der drei (!) Oratoriumsteile werden mit groß angelegten Fugen herausgehoben und gegliedert. Man kann dabei im Piano endende Binnenfugen (Nr. 1, 9, 14) von Schlussfugen (Nr. 9, 16 und 30) unterscheiden, die homophon und in ein Fortissimo münden.

 

 

Verhältnis von Chor-Anteilen zu Sologesängen

Der Choranteil beträgt vier Fünftel des Gesamtwerkes. Der Chor tritt in nicht weniger als zwölf (!) verschiedenen Rollen auf: Engel, Höllengeister, Eroberer, Selige, Erstandene, Ungerechte, Fromme, Märtyrer, Mütter mit Kindern, Menschen, Verdammte.
Um die Zuhörer bei der „Navigation“ zu unterstützen - aber auch um die jeweiligen Emotionen deutlicher zu pointieren - werden in der Friedrichshafener Aufführung - erstmals in der Geschichte des Oratoriums - die jeweiligen „Sphären“ in verschiedenfarbiges Licht getaucht.

Weitere Rollenträger sind neben dem Chor die „vier Erzengel“, „Eva“, „Maria“ und der „Satan“. Obwohl der Anteil dieser Soli an der Partitur nur ein Fünftel beträgt, sind sie äußerst wirkungsvoll komponiert und eingesetzt.

Möge die Lichtregie und die besondere räumliche Verortung der „Engel“, des „Satans“ und des „Chores der Eroberer“ der heutigen Aufführung dazu dienen, die auf den ersten Blick verwirrende Vielfalt von „Akteuren“ und Szenen besser nachvollziehen zu können.

Inhalte mit hohem Anspruch an die Zuhörenden

Von einem Oratorium erwartet man nicht ausdrücklich eine durchgehende Handlung.
Die Inhalte, die bei einem kirchlichen Oratorium zumeist aus der Bibel stammen, bzw. von ihr inspiriert sind, werden bei den Zuhörern vielmehr als bekannt vorausgesetzt. Die Texte dürfen ausdrücklich assoziativ sein - streckenweise geradezu aphoristisch - wobei dem Zuhörer zugetraut wird, die Zusammenhänge selbstständig herzustellen. So ist es auch in Johann August Apels Dichtung des „Weltgerichtes“, die besondere Ansprüche an die Zuhörer im selbstständigen Ergänzen und Assoziieren bereithält.

Gliederung

Das Oratorium, dessen Geschehnisse vor dem imaginären Thron des richtenden, d. h. Recht schaffenden Gottes, stattfinden (deutlich vor allem in Nr. 17), ist in drei Teile gegliedert: Tod, Auferstehung und Gericht:

Der erste Teil stellt die drei Schauplätze Himmel, Hölle und Erde vor. Inhaltlich könnte man diesen ersten Teil als die „Ankündigung des Gerichtes“ verstehen.
Der zweite Teil schildert die „Freude über die Auferstehung bei den Gerechten und die Angst und Verzweiflung bei den Ungerechten.“ Interessanterweise tauchen der Satan und seine Sphäre der Höllengeister in diesem Mittelteil nicht auf.

Dem dritten Teil ist das eigentliche Gericht vorbehalten: Satan verklagt die Menschen vor Gott. Die Verfolgung und Tötung der Märtyrer ist ihm ein Beweis für die „Gefallenheit“ der Menschen (Nr. 21). Auch alle menschliche Liebe - sogar die der Mütter zu ihren Kindern - ist zu gering und „gebrochen“ (Nr. 23).

Schließlich sprechen die Erzengel das Verdammungsurteil aus! (Nr. 27 und 28).
In einer unerwarteten Wendung ist es Maria, die ihren Sohn Jesus auf dessen Erlösungstat im Kreuzestod hinweist. Alle können jetzt erlöst singen: „Vollbracht ist das Opfer der Ewigkeit! Er ruft sie alle zu seiner Herrlichkeit“.

Religiös-philosophische Einordnung

Schneider und Apel schrieben nicht mehr primär im Auftrag der Kirche oder eines Fürsten, sondern für das erstarkende Bürgertum, in dem das Tragen und die Gestaltung von Kultur zur selbstverständlichen

 

 

Aufgabe und Betätigung bessergestellter Schichten geworden war. Die Entstehung von und das Engagement in bürgerlichen Chören gehörte in gehobenen Kreisen zum „guten Ton“. Dort konnte man gar Zugang zu einflussreichen Menschen gewinnen. Renommierte Institutionen wie die berühmte Berliner Singakademie sind ein Beispiel dafür. Die Berliner Singakademie war z. B. eine entscheidende Voraussetzung, durch die Felix Mendelssohn das musikwissenschaftliche Jahrhundertereignis der ersten Wiederaufführung der Bachschen „Matthäus-Passion“ wagen konnte. (Die Kantorei an der Schlosskirche hat die Matthäus-Passion in der Fassung von 1841 am Karfreitag diesen Jahres in der Schlosskirche aufgeführt).
Neben der Berliner Singakademie schossen an vielen Orten Chöre mit zum Teil erstaunlichem Niveau aus dem Boden. Für diese Art Chöre entstand das „Weltgericht“.
Nun war die Gesellschaft durch den Einfluss der Aufklärung im Begriff, sich von feudaler Fremdbestimmung nach und nach zu lösen, und auch der Einfluss der Kirche als alleinige Vermittlerin „ewiger Wahrheiten“ nahm ab. Sich sein eigenes Weltbild zu entwerfen, wurden „modern“.
Schon im Barock hatte Charles Jennens seinen von G. Fr. Händel vertonten bewusst christologischen „Messias“ vor allem aus der Bibel zusammengestellt als Entgegnung auf die deistische Vorstellung, bei der das Göttliche vor allem in Gott als dem Schöpfer (so genannter Erster Glaubensartikel) gesehen wird und die Heilsaspekte um die Person Jesu (Zweiter Glaubensartikel) in den Hintergrund gerückt werden.
Johann August Apel nun lässt seine Dichtung bewusst im Allgemeineren, so dass sich die Menschen mit ihren vielfältiger - heute würden man wohl sagen „pluralistischer“ - gewordenen Vorstellungen in die Gedanken des „Weltgerichtes“ „einklinken“ konnten. Wir heute sollten uns nicht daran stören, dass Apel anstelle der „reinen kirchlichen Lehre“ hier zum Teil andere Akzente setzt. In dem Geschehen hat Christus nämlich durchaus Platz! Er ist der Ausschlaggebende, der Entscheidende, der souverän - von Maria an das Heilsgeschehen auf Golgatha erinnert - das schon fast verloren geglaubte Heil doch schließlich gewährt. (Nr. 30)

Eigene Fragen und Positionssuche

Alles Geschehen im Oratorium verläuft - wie schon erwähnt - vor dem imaginären Thron des richtenden Gottes. Allein diese Perspektive, dass es nämlich nicht egal ist, was ich in meinem Leben tue oder lasse, dass der Mensch sich im Lichte Gottes erkennen wird, ist es nach Ansicht des Verfassers dieser Zeilen wert, „Das Weltgericht“ zu „entdecken“ und aufzuführen.
In unserer heutigen Zeit müssen wir zum Beispiel beim Umgang mit den „Ersatzgöttern“ Geld“ und „Profit“ erschreckend aktuell erkennen, wie schnell das Wissen verloren geht, dass wir uns rechtfertigen - verantworten - müssen.
Das „Weltgericht“ bietet die Möglichkeit der Reflexion zum Beispiel über die Fragen nach Gottes Gerechtigkeit (Theodizee) und Tod, Leben, Auferstehung, Gericht und ewigem Leben. Dürfen wir hoffen, dass es nach dem Tod weitergeht? Dass wir unsere Lieben wiedersehen? Dürfen wir hoffen, dass durch das „Gericht“ alles „richtig“ gemacht wird, also im klaren Licht „aufgedeckt“ (Apokalypse)?
Erhalten die in diesem Leben Schwachen Genugtuung gegenüber den „Eroberern“,
in denen man heute leicht zum Beispiel gewissenlose Finanzjongleure sehen könnte.
Wird es Genugtuung und Gerechtigkeit geben für die zahllosen Gefolterten und Misshandelten? Woher kommt das Böse? Gibt es Verführer in unserem Leben? Gibt es eine Kraft/Macht, die versucht, uns von der Wahrheit und vom Göttlichen abzubringen? Werden wir ihrer Macht schließlich durch Gottes Wirken entrissen?
Sind wir „gläserne Menschen“, deren Bedürfnisse global und subtil dahin gelenkt werden, Märkte zu bedienen, um auf der Jagd nach immer neu geweckten Scheinbefriedigungen unserer eigenen wirklichen Bedürfnisse entfremdet zu werden? Werden wir immer manipulierbarer und zum Spielball von „Märkten“ und deren Lobbyisten, die wiederum die womöglich einflussarmen politischen Mächte steuern?

 

 

Möge die Aufführung dazu beitragen, ein zu Unrecht vergessenes Werk und seine Schöpfer ins Bewusstsein zu bringen. Möge den Hörenden und Ausführenden darüber hinaus Impulse für wichtigste Fragen in ihrem Leben und Sterben geschenkt werden.

 

- Sönke Wittnebel -

Alle Anmerkungen stammen unter Zuhilfenahme des Vorwortes von Phillip Schmidt aus der Pfefferkorn-Ausgabe des „Weltgerichtes“, von „Gedanken zu einer „Weltgerichts-Dramaturgie“ von Ronald Müller sowie von Impulsen von Sängerinnen und Sängern der Kantorei an der Schlosskirche von Sönke Wittnebel.
Die Orthografie in der Dichtung ist der Partitur entnommen

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